Meine Kindheit begann im heißen Sommer 1978, im winzigen litauischen Dorf, das nur eine (nicht asphaltierte) Straße hatte. In dem hundertjährigen Bauernhaus, in dem ich mit meiner Mutter und Oma lebte, gab es kein fließendes Wasser, kein Telefon und um den einen beider TV- Kanälen in schwarz-weiß zu empfangen, musste man behutsam an einer wackelnden Antenne drehen. Kinderfilme gab es um 20:30 Uhr und am Sonntag- eins extra. Da ich sehr oft krank war und das Bett hüten musste, langweilte ich mich sehr. Zum Glück hatte ich treue Freunde, die mich besuchten- die Bücher. Ich wälzte alte Bücher mit über Natur und Malerei und streichelte Blätter, auf denen Fotos gedruckt waren. Sie waren so weich und glatt, meine Hände erinnern sich noch heute daran. Aber ich traute mich nicht, davon zu träumen, selber eins zu schreiben, denn das „dürfen“ nur die ganz Großen…
- Mein erstes echtes Schreibgerät aus der Welt der Erwachsenen. Ich war damals paar Jahre alt, hütete wieder einmal das Krankenbett. Meine Mutter wusste nicht mehr, wie sie mich beschäftigen soll, also half ich ihr nach und wünschte mir ihre geheimnisvolle Handtasche. Ihre einzige Handtasche roch nach Magie, Reisen und war für mich wie ein Zugang in eine andere Welt. So durfte ich, unter Aufsicht natürlich, in dieser Tasche kramen. Ich blätterte in ihren Notizbüchern, drehte ihren einzigen Lippenstift auf und fand schließlich ihn- den weißen Kugelschreiber mit blauen Verschluss am oberen Ende, das mit Pflaster repariert war, denn meine Mutter war eine Krankenschwester. So durfte ich damit vorsichtig schreiben, das versprach ich. Als ich wieder alleine war, besuchte mich eine Idee.
2. Nicht alle können lesen, aber schreiben? Das können alle. Ich auch. Das ist zauberhaft! Ich liebte es, Fotos anzuschauen, insbesondere wenn ich krank war. Unsere Fotos, die Fotos der ganzen Großfamilie, waren nicht etwa in einem Album geklebt, sondern waren lose in einer kleinen bunten Patchwork-Tasche aufbewahrt. Mir fielen die unterschiedlichen Schriftarten aus den Rückseitigen der Fotos auf, so kam ich darauf, das jeder schreiben kann und zwar in eigener Schrift. Damit begann ich auf den glatten weißen Rückseiten zu schreiben, was mir zu den abgebildeten Personen so einfiel. Ich konnte nicht lesen, was andere schrieben und die anderen konnten nicht lesen, was ich schreibe und das war o.k. Darüber hinaus schrieb ich auf der Tapete, aber das ist eine andere Geschichte. So ließen sich die langen Zeiten im Krankenbett aushalten, denn ich hatte nicht nur Bildbänder mit Naturfotos, Malerei, Tasche mit Fotos, sondern jetzt auch ihn- einen echten Kugelschreiber. Jedes Mal, wenn ich schrieb erklang etwas in meinem Herzen. Ich war sowohl da, als auch im Universum. Dieses Gefühl und die blaue Spur pulsierten gemeinsam. Ich fühlte mich vollkommen und glücklich, mein Herz sang.
3. „Richtiges“ Schreiben vertrieb den Zauber. Kurz vor meiner Einschulung bekam ich einen ersten echten Füller und einen ersten echten Heft. „So schreibt man richtig“, hörte ich jemanden Großes sagen, während eine große Hand den Füller in meine kleine „richtige“ Hand verlegte. „Aha, so schreibt man richtig“, sagte ich mir und ich wollte ja lernen richtig zu schreiben und schrieb ab dem Moment mit der Hand, die mir unbequem war- mit der Rechten. Ich schrieb stolz und gerne aber das Gefühl „Ich bin im Grunde falsch-rum“ kam und begann in mir zu wuchern.
Jedes Mal, wenn ich als Schülerin ein neues Heft aufschlug, gab ich mir das Wort, diesmal schön und gleichmäßig zu schreiben. Doch bereits paar Seiten später versagte ich und brach das Wort. So wurde das Schreiben noch in der Grundschule zur Qual. Später war das Schreiben etwas mechanisches, ich schrieb und im Herzen war der Klang der Freude verstummt und vergessen.
4. Was war das? Dieser kurzer Einklang? Doch das nahende Ende meiner Schulzeit schenkte mir die Möglichkeit, den Notendurchschnitt in Litauisch zu verbessern. Mit Gedichten?! Ja, mit Gedichten. Als ich von den „weißen Zeilen“ hörte, fühlte ich mich wie ein Kalb, das im Spätherbst im Stall geboren wurde und nach dem langen Winter zum ersten Mal im Leben nach draußen kommt und mit sich überschlagenen Hinterbliebenen über das grenzenlose Grün galoppiert. „Weiße Zeilen“?! Ohne Regeln?! Ohne Grammatik?! Und ich schrieb und schrieb und schrieb. Eines Tages war ich schockiert: die Lehrern schrieb ein Gedicht in Schönschrift ab und befestigte sorgfältig an der großen eingerahmten Tafel im Flur. In der Tafel in der sonst nur besondere Erfolge der SchülerInnen waren, Einserabitur zum Beispiel. Zuhause durfte von meinen surrealistischen Gedichten niemanden etwas erfahren, denn ich führte ein Doppelleben: zu Hause arbeitete ich schwer auf dem Bauernhof, litt unter ständiger Angst und in der Schule probierte ich mit anderen MitschülerInnen geregelte Unbeschwertheit zu leben.
5. Der Versuch ganz „richtig“ zu werden. Die Möglichkeit, sich die Noten durch Gedichte aufzubessern, endete bald und ich probiere, dieses Gefühl, das ich beim Gedichte schreiben spürte, zu vergessen. Es wäre auch zu schmerzlich gewesen etwas wachsen zu sehen, für das im Leben kein Platz geben darf. Ich galt auch so bereits, als „merkwürdig“. Die Poesie zog sich zurück, wie eine verblühte Tulpe und schon bald schien sie ganz verschwunden zu sein. Ich lebte, soweit es mir möglich war, normal. Ich war nützlich, hilfreich, produktiv bis ich mit 27 zusammen brach. Eine wiederkehrende Depression sollte es heißen. Es war so, als ob ein wildes Tier in mir auflebte. Dieses Wesen wusste intuitiv, welches Kraut im helfen wird. So fand ich mich in einer Buchhandlung wieder und hielt ein Schwarzes Buch in der Hand mit einer aufkeimenden Pflanze drauf: Erich Fried. Gedichte. Ich las und las und las bis ich das richtige Kraut fand: „Bevor ich sterbe“. Ich konnte nicht genug von diesen Klang bekomme, also legte ich große Papierbögen auf dem Fußboden und begann das Gedicht mit Bleistift abzuschreiben. Etwas Kindliches zwitscherte von innen nach außen durch die gelatineartige Erstarrung: „Probier doch mal mit Links“. Und ich probiere und probierte und die Erstarrung verschwand. Ich schrieb! Mit Freude! Begann sogar zu spielen und gab mir selbst nach. Sogar spiegelverkehrt und dazu auf dem Kopf gedreht schrieb ich bis ich erschöpft war und Kopfschmerzen bekam, die ich sie noch nie kannte. „In einer Depression raten wir von einer Rückschulung ab, das ist zu riskant, aber Sie haben ja schon damit angefangen. Sie dürfen nicht mehr mit rechts schreiben, das wäre für das Gehirn zu schlimm“, sagte mir eine der damals wenigen Linkshänder-Expertinnen am Telefon. Sie wohne sehr weit von mir aber ihre Worte waren für mich ein Segen. Ein Segen für meinen Weg, mich wieder gesund zu schreiben.
6. Von der Freude, einen Freund zu schreiben. Also schrieb ich jahrelang und kiloweise. Angangs war die Schrift sehr krachselig, dann wurde sie immer fließender und als sie deutlich und kräftig war, verbrannte ich das meiste oder gab zum Altpapier. Ich atmete auf und der Traum, ein Buch zu schreiben, tastete sich an mich heran. Erst schickte ich ihn fort, doch er kam beharrlich zurück. Mehrere Versuche scheiterten an Aufschieberitis Humanum, Imposter Syndrom und anderen erfinderischen Blockaden bis ich Monika Stolina traf. Mit Panik, Freude und Staunen stellte ich fest, dass Bücher schreiben heute eine Teamarbeit ist:
https://monikastolina.de/schreib-dein-buch-in-33-tagen-3/
So kam „Weltfühlung“ zur Welt. Eine poetische Geschichte darüber, dass es schön ist, die Welt so zu fühlen, wie uns das jeweils angeboren ist.
https://www.buecher.de/shop/mutter/weltfuehlung/pretzell-milda/products_products/detail/prod_id/62539979/session/uhkutuk1ui270kguaqndu5b1kk/
7. Sieben ist meine Lieblingszahl. Heute spüre ich, es ist alles da, wir brauchen nur an unserer Antenne zu drehen, und schon beginnt unser Herz zu singen. Bunt. Zur Musik, die in der Welt immer spielt…